Drei Staaten, drei Kulturen?
Österreich grenzt an Deutschland und wird bei seiner fast gleichen Sprache in seiner Eigenständigkeit leicht übersehen. Dasselbe gilt für die Schweiz. Die Einheit der Sprache darf nicht über die heutigen literarischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Differenzen hinwegtäuschen. Das gilt, bei allen gemeinsamen Wurzeln und fortdauernden Beziehungen, insbesondere für die der letzten zweieinhalb Jahrhunderte. Alle drei Staaten gingen aus dem Zerfall des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hervor. Die Schweizer Urkantone befreiten sich 1291 von den Habsburgern. Das Deutsche Reich Bismarckscher Prägung von 1871, dessen Rechtsnachfolger das heutige Deutschland ist, basierte auf der Territorialpolitik Preußens, die sich gleicherweise gegen Habsburg und das Reich richtete. Österreich ging 1918/19 aus dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie hervor. Das alte Deutsche Reich selbst hatte mit den Siegen Napoleons über die deutschen Fürsten bereits 1802 sein Ende gefunden, als Kaiser Franz I. die deutsche Kaiserkrone niederlegte und sich fortan nur noch Kaiser von Österreich nannte. Die heutige Schweiz bildete sich in Stufen durch die Angliederung weiterer „Orte“ oder Kantone an die Urkantone zum heutigen Staatsgebilde heraus; 1648 wurde, zusammen mit den Niederlanden, ihre staatsrechtliche Loslösung aus dem Reichsverband und damit ihre tatsächliche Unabhängigkeit völkerrechtlich anerkannt. Die Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie mit Böhmen, Galizien, Teilen Norditaliens und des Balkans lebte innerhalb des Deutschen Bundes weiter, bis Bismarck 1871 durch die Gründung eines Deutschen Reichs ohne Habsburg sie auf sich selbst verwies. Während die Schweiz kulturell durch den Calvinismus geprägt ist, entwickelte der politisch unzeitgemäße, durch den Katholizismus und den Barock geprägte habsburgische Vielvölkerstaat über seine Zentren Wien, Prag und Budapest eine einmalige kulturelle und auch wissenschaftliche Vielfalt: musikalisch, literarisch, in der bildenden Kunst. Wir finden seit der Gegenreformation eine starke Orientierung an Traditionen, aber auch kritische Gegenwartsanalysen und weltweit nachwirkenden Zukunftsentwürfen (Schnitzler, Kafka, Schönberg, Freud, Wittgenstein). Durch die Verarbeitung der vielfältigen gesellschaftlichen Probleme und durch das multikulturelle Element unterscheidet sich die österreichische Literatur von der deutschen. Die Schweiz behauptete demgegenüber durch das 19. Jh. hindurch bis in die Gegenwart eher einen Realismus, in dem sich aufgrund einer konsequenten politischen Neutralität die Beobachterrolle mit einer weltoffenen Vermittlerrolle paart. Das Studium der deutschen Sprache sollte nicht vergessen lassen: Es schafft die Grundlage für den Einblick in drei interessante Kulturen.
Texterläuterungen
Schnitzler, Arthur - 1862-1931, österr. naturalist-impressionist. Dichter und Arzt; in seinen Werken analysiert er scharfsinnig die österr. Gesellschaft unter Verwendung neuer literar. Mittel (insbers. durch den inneren Monolog) Schönberg, Arnold - 1874 – 1951, öster. Komponist; Begründer der Zwölftontechnik, einer modernen Kompossitionsmethode, die im Abrücken von den traditionellen Tonarten die zwölf Skalentöne verselbständigt und ihnen in der Komposition eine neue, strenge Ordnung zu Grunde legt Calvinismus - Benennung der „reformierten Kirche“, deren Grundlage der Genfer Reformator Johann Calvin/Jean Cauvin (1509-64) in Abweichung von Luther legte. Verbreitet in der Schweiz, in Frankreich, den Niederlanden und in den angelsächsischen Ländern karitativ - im Sinne der Karitas, der christlichen Nächstenliebe Wörter und Wendungen
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